Waldorfschulen und rechtsradikale Unterwanderungsversuche – Darstellung und Analyse

in: „Erziehungskunst“ 11/2022, S. 10-18

Es gibt Versuche von Rechts, Waldorfschulen zu unterwandern. Was in den vergangenen Jahren geschehen ist, was die Ursachen sein könnten und wie die Waldorfgemeinschaft dagegenhalten kann, davon berichten die vier Autoren, die sich schon seit Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigen.

Ein einführender Blick in die Vergangenheit

Dass die Waldorfpädagogik Schnittstellen für völkisch-nationalistische Projektionen bieten könnte, mag zwar grundsätzlich irritieren, aber schon zu Zeiten Rudolf Steiners gab es esoterische Strömungen, die sich völkisch orientierten und in Teilen auch der Theosophischen Gesellschaft nahestanden. Viele der Protagonisten dieser Ausrichtung werden heute unter dem Begriff Ariosophen subsummiert, was begrifflich Anhänger:innen eines völkischen und später von den Nationalsozialisten aufgegriffenen Arier-Phantasmas unter anderem beschreibt. Völkisch-okkultistische Gurus wie Guido von List, Jörg Lanz von Liebenfels oder Rudolf von Sebottendorf bildeten sogar ideologische und okkulte Grundlagen für das Weltbild der Nationalsozialisten respektive der SS – und letzterer publizierte sogar im Theosophischen Verlagshaus, dem Hausverlag der Theosophischen Gesellschaft. Auch wenn Rassismusforscher:innen wie George L. Mosse oder Nicolas Goodrick-Clarke Steiner dezidiert nicht zu dieser völkischen bzw. ariosophischen Ausrichtung okkultistischer Gruppen zählen, suchten einzelne Protagonisten dieser Szene die Nähe zur ihm. So beispielsweise Max Seiling, der auch dem esoterisch ausgerichteten völkisch-nationalistischen Bayreuther Kreis um Richard Wagners Tochter Eva von Bülow und ihrem späteren Ehemann Huston Steward Chamberlain nahestand. Max Seiling versuchte Einfluss auf Rudolf Steiner auszuüben und ihn in diesen Kreis einzubinden, was dieser jedoch unmissverständlich ablehnte – ein Beispiel, aber kein Einzelfall, und ein Phänomen, das Anthroposophie und Waldorfpädagogik bis heute begleitet. Gerade in den letzten Jahren wurde wieder deutlich, dass die Waldorfschulen und -kinder- gärten zunehmend interessant werden für völkisch-nazistische Gruppen und von rechts sogar ein Kampf um die Deutungshoheit der Schriften Steiners begonnen hat.

Aktuelle Beispiele von Unterwanderungen

Im Folgenden soll jedoch nicht primär die mögliche Anziehungskraft für Menschen aus dem völkischen und in Teilen auch okkulten Spektrum analysiert, sondern anhand der aktiven Arbeit gegen eine rechte Unterwan-derung von Waldorfschulen aufgezeigt werden, inwiefern Menschen aus dem Spektrum der Völkischen Siedler, der Anastasiabewegung oder anderen Formen rechtsesoterischer, rechtsradikaler oder rechtsextremer Gruppen versucht haben, als Familien oder Lehrkräfte mehr oder weniger offensichtlich in die Waldorfschulen hineinzukommen, dort tätig zu werden und auf sie einzuwirken. Dies geschieht natürlich ohne Bekenntnis zur eigenen Szene und vielfach als sogenannte Freidenker oder auf dem Trittbrett der Querdenkerbewegung, um Schulen und Kindergärten auf diesem Weg im eigenen Sinne zu beeinflussen, was vielfach zu essentiellen Konflikten und Krisen führte.

Reichsbürger

An einer Waldorfschule in Schleswig-Holstein wurde im Sommer 2014 der Geschäftsführer fristlos entlassen, weil er Reichsbürgern die Schule für ein Treffen zur Verfügung gestellt hatte. In der Zwischenzeit haben auch andere Schulen auf Probleme mit Reichsbürger:innen hingewiesen, was im Rahmen der Treffen des Arbeitskreises Waldorfschulen gegen Rechtsextremismus in NRW, der 2017 gegründet wurde, deutlich geworden ist. Der Arbeitskreis hat die Schulen bei der Bearbeitung der Probleme unterstützt. Auch in anderen Bundesländern sind Waldorfschulen mit dieser Situation konfrontiert worden und wurden bis ins Rechtliche beraten, um sich vor Einflüssen der Reichsbürger:innen in der Elternschaft und im Kollegium zu schützen. Im Februar 2022 löste die Polizei ein Treffen von Reichsbürger:innen an einer Waldorfschule in Bayern auf. Dem Hausmeister, der die Teilnehmer:innen des Treffens in die Schule gelassen hatte, wurde gekündigt. Inwieweit darüber hinaus Kontakte zwischen Reichsbürger:innen und Mitgliedern der Schule bestehen, wird noch untersucht.

Die Ideologien der Reichsbürger:innen sind sehr heterogen, wobei im Zentrum steht, dass die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat bestritten und seine Rechtsordnung abgelehnt wird. Häufig gehört auch die Ablehnung der Demokratie dazu, die Leugnung des Holocaust und die Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele. Waldorfschulen scheinen als Schulen in freier gegenüber Schulen in öffentlicher Trägerschaft für Reichsbürger:innen – wie auch für einige Coronaleugner:innen – Distanz zum Staat zu suggerieren. Die Freiheit dieser Schulen, die ja auch in dem Namen Freie Waldorfschulen zum Ausdruck gebracht wird, ist möglicherweise auch ein Anreiz dafür, die eigenen Vorstellungen wirksam in die Schulgemeinschaft einfließen zu lassen.

Die bis jetzt bekannt gewordenen Fälle von Reichbürger-Sympathisant:innen beschränken sich auf einen Geschäftsführer, einen Hausmeister und vereinzelte Eltern. Lehrer:innen mit derartigen Kontakten oder Sympathien sind bisher seltener in Erscheinung getreten.

Lehrkräfte in rechtsradikalen Netzwerken

Von Lehrer:innen, die Beziehungen zu rechtsextremen Netzwerken haben oder Teile rechtsextremer Ideologien offensiv vertreten, sind bis jetzt folgende Fälle bekannt geworden.

1993 veröffentlichte der an einer Schweizer Rudolf-Steiner-Schule tätige Bernhard Schaub ein Buch mit dem Titel Adler und Rose, in dem er den Holocaust leugnete. Ihm wurde fristlos gekündigt. Er ist mit dieser Ansicht dann zunehmend in die Öffentlichkeit getreten, vor allem durch die Teilnahme an der großen Holocaustleugner-Konferenz in Teheran 2006, die er zusammen mit NPD-Funktionären besucht hat. 2008 war er einer der Gründer:innen der Europäischen Aktion, eines Zusammenschlusses von Holocaustleugnern, der unter anderem die «Rückwanderung» aller «Nicht-Europäer» in ihre Heimatländer propagiert. Von dieser Gesinnung hatte er kurze Zeit vorher noch nichts nach außen dringen lassen, zumindest wurde sie nicht wahrgenommen, denn nach dem Mauerfall war er neben seiner Tätigkeit als Waldorflehrer in der Schweiz kurzfristig als Gastdozent für Waldorfpädagogik in Leipzig tätig. Zu den Teilnehmer:innen gehörte unter anderem Britta Hackbusch, die 2008 die Waldorfschule Mahlsdorf-Hellersdorf gründete, welche beim Bund der Freien Waldorfschulen einen Gaststatus erhielt. 2013 wurde der Bund darüber informiert, dass Hackbusch und Teile des Schulpersonals mit extrem rechten Einstellungen aufgefallen waren und entsprechende Inhalte in den Unterricht Einzug gehalten hatten. Der Bund und die LAG Berlin-Brandenburg wollten den immer noch existierenden Gaststatus der Schule nicht verlängern, worauf die Schule selbst den Vertrag mit der LAG kündigte. Die Schule nannte sich daraufhin Freie Schule am Elsengrund, verwendete für ihre Pädagogik aber weiterhin den Namen Rudolf Steiners. Es gab Hinweise darauf, dass Kontakte zu Bernhard Schaub bestünden und ein oder zwei seiner Kinder zu dieser Zeit die Schule besuchten. 2018 soll er einen Kurs für Lehrer der Schule gegeben haben und auch der rechtsradikale Volkslehrer Nikolai Nehrling hat eine Veranstaltung der Schule besucht. Erst 2021 wurde durch einen Bericht des WDR, in dem ein ehemaliges Vorstandsmitglied über die Vorgänge an der Schule berichtete, die Schule überprüft. Hackbusch und ihrem Mann wurde gekündigt. Die Probleme sind aber nach aktuellen Berichten des Berliner Tagesspiegels immer noch nicht vollständig behoben. Im Juli 2022 veranstaltete Bernhard Schaub laut Berichten des NDR ein völkisches Jugendlager auf seinem Anwesen in Mecklenburg-Vorpommern. In einem offenen Brief, in dem er sich im Juni 2022 an die Anthroposophische Gesellschaft und einige Waldorfschulen gewandt hat, deutet er an, dass er neben der generellen Ablehnung aus diesen «Zusammenhängen» in vereinzelten Fällen, wenn auch etwas verdeckt, Zustimmung erhalten habe.

2004 beantragte Andreas Molau von der Waldorfschule Braunschweig eine Beurlaubung, um für die NPD im sächsischen Landtag arbeiten zu können. Ihm wurde fristlos gekündigt. Seine rechtsextreme Gesinnung hat in den acht Jahren, die er als Lehrer an der Schule tätig war, ebenfalls keiner wahrgenommen. Es gab daraufhin noch eine weitere Auseinandersetzung, weil dieser Lehrer 2007 versuchte, ein völkisches Landschulheim zu gründen, das den Namen Waldorfschule tragen sollte. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich dagegen erfolgreich juristisch zur Wehr gesetzt. Das Landgericht Berlin hat ihm mit einem Urteil vom 3.7.2008 (Az 52 O 561/07) untersagt, den Namen Waldorfschule zu verwenden.

Im April 2015 entdeckten Schüler:innen an der Freien Waldorfschule Minden, dass einer ihrer Lehrer, Wolf-Dieter Schröppe, Kontakte zu rechtsextremen Netzwerken hatte. Auch hier ist seine Gesinnung in den 21 Jahren, die er an der Schule tätig war, nicht aufgefallen. Der Prozess der Aufklärung und der Auflösung des Arbeitsverhältnisses war extrem mühsam, zumal Schröppe im Kollegium und in der Elternschaft hohe Aner-kennung genoss. Die Trennung erfolgte durch die Aufforderung des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen.

Daraufhin begann ein Beratungsprozess durch die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus OWL ein Ruhenlassen der Mitgliedschaft in der LAG NRW und eine Bearbeitung der Problematik durch Mitarbeiter:innen der Schule und der LAG NRW. Mit dem Schuljahr 2017/18 erhielt die Schule wieder ihre volle Mitgliedschaft und die LAG gründete den Arbeitskreis Waldorfschulen gegen Rechtsextremismus in NRW, wobei schon bei dem ersten Treffen deutlich wurde, dass damit ein Forum entstanden war, auf dem rechts-extreme Aktivitäten an Schulen thematisiert werden konnten: ein Hakenkreuz in einer Schule, Einschaltung des Staatsschutzes, Aktivitäten von Reichsbürger:innen und rassistische Sprüche von Schüler:innen, Lehrerkräften und Eltern, rechtsextremen Chats von Schüler:innen mit Einschaltung der Staatsanwaltschaft, Holocaustleugnung in der Elternschaft und der Zunahme der Formulierung rechter Positionen von Schüler:innen.

Völkische Siedler

Weitere brisante Beispiele sind die sogenannten Völkischen Siedler (VS), zu denen im weitesten Sinne auch Mitglieder der Anastasiabewegung gezählt werden können. Der Sammelbegriff stammt aus der Forschung und wird – verständlicherweise – von den betroffenen Gruppen durchweg abgelehnt. Nach außen hin stellen sie sich gerne als «konservative, die Natur schützende und das traditionelle Handwerk betreibende», «frei-denkende und kritische Individuen» dar, die sich für die «Gemeinschaft» engagieren (so ein VS gegenüber einem der Autoren). Allerdings meint «Gemeinschaft» in diesem Zusammenhang «Deutschsein» innerhalb eines völkisch-nationalistischen Rassen- und Sippendenkens, also ganz im Sinne der NS-Ideologie einen exkludierenden Begriff von «(Volks-)Gemeinschaft». Die VS zielen darauf ab, als solche unerkannt zu bleiben, um im Zuge einer Graswurzelbewegung Strukturen in ihrem Sinne zu schaffen und so auf die Gesellschaft zu wirken, beispielsweise durch das Aufkaufen von Häusern in einzelnen Orten, die Schaffung einer sozialen Infrastruktur wie Hausaufgabenhilfe, Nachbarschaftshilfe etc., mit der gezielt die eigene Weltsicht in die Umgebung einsickern soll, ohne das eigene radikale Denken zu offenbaren. Ein anderer Weg ist der Versuch, Vereinsstrukturen zu unterwandern wie in Kindergärten. Was bei einer Neugründung in Mecklenburg-Vorpommern einmal erfolgreich verlief, wurde in einem niedersächsischen Waldorfkindergarten konflikthaft abgewendet. So auch in einer niedersächsischen Waldorfschule, in der einige wenige Kinder aus Siedler-Familien als solche unerkannt beschult wurden. Erst durch das (ungeplante) Bekanntwerden im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der Leuphana (Universität Lüneburg) und der Amadeu-Antonio-Stiftung wurde es durch einen offenen und unverschleierten Umgang von Schulseite (auch gegenüber Presseanfragen) möglich, mit einem wachen Blick auf die Situation, möglichen Konflikten innerhalb der Elternschaft, aber auch innerhalb des Kollegiums über den Umgang mit solchen Gruppen bewusst zu begegnen, sich zu informieren, beraten zu lassen und handlungsfähig zu bleiben.

Anastasiabewegung

Noch schwieriger ist der Umgang mit der Anastasiabewegung, die den Lehren der Romanfigur Anastasia des russischen Autors Wladimir Megre folgt. Die zehn Bände beinhalten neben esoterischen, naturmagischen und religiösen Aspekten auch dezidierte Formen von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Verschwörungsmythen sowie eine völkisch-rassistische Haltung. Anastasia wird von ihren Anhänger:innen als wahrhaftig angenommen und verehrt.Ihre Lehre ist die Basis für Lebensgemeinschaften wie unter anderem Goldenes Grabow oder LebensRaum e.V. Das Interesse der Anastasia-Anhänger:innen geht nach erfolglosen Schulgründungsversuchen besonders in Österreich (Lais- und Schetinin-Schulen) zunehmend in Richtung Waldorf-schulen, die – so die irrige Annahme – vermeintliche Übereinstimmungen aufweisen würden. Schlüsselkriterien hierfür sollen die vermeintliche Naturverbundenheit, die spirituellen Hintergründe, alte Handwerke etc. sein und wie bei den VS wird die völkisch-esoterische Ausrichtung nicht offen gelebt. Auch wenn nicht alle Anastasia-Anhänger:innen den völkisch-rassistischen Aussagen aus Megres Romanen zu folgen scheinen, sind die personellen Schnittstellen der Anastasia-Bewegung mit der völkisch-nazistischen Szene signifikant, was auch an einzelnen Waldorfschulen bereits zu Schwierigkeiten geführt hat.

2019 wurde ein Lehrer der Waldorfschule Thale wegen der Zugehörigkeit zur Siedlungsgruppe Weda Elysia entlassen, die dem völkischen Netzwerk der Anastasia-Bewegung zuzuordnen ist. Dabei wurde die Schule von dem Verein Miteinander, einem Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit, unterstützt, außerdem von der Landeszentrale für politische Bildung. Es wurde darüber hinaus der Arbeitskreis Schule ohne Rassismus-Schule mit Courage gegründet. Dem gleichnamigen bundesweiten Netzwerk gehört die Schule schon seit 2013 an. Im Rahmen dieses Arbeitskreises hielten die renommierten Rechtsextremismus-Experten Andrea Röpke und Andreas Speit 2021 einen Vortrag mit dem Titel Freie Schulen als Wirkungsfeld völkischer Siedler.

Zur Interpretation der Schriften Steiners – Publikationen im rechten Spektrum

Neben vereinzelten rechten bzw. rechtsextremen Positionen in Lehrer:innen- und Elternschaft stellt ein sehr ernst zu nehmendes Problem die Vereinnahmung der Waldorfpädagogik und Anthroposophie von Akteur:innen aus dem rechten Spektrum dar, die am offensivsten von Caroline Sommerfeld betrieben wird. Sie ist der Identitären Bewegung zuzurechnen, die vom Verfassungsschutz als verfassungsfeindlich eingestuft wird. In ihrem Buch Wir erziehen geht sie auf Maria Montessori, Peter Petersen und Rudolf Steiner ein. Steiner stellt sie als «völkischen Denker» dar und empfiehlt ausdrücklich die Waldorfschule für Rechte, wo eine Integration ins eigene Volkstum aktiv betrieben werde und eine klare Unterscheidung zwischen dem eigenen Volk und den Fremden erfolge. Erschienen ist diese Publikation 2019 im rechtsradikalen Verlag Antaios von Götz Kubitschek. In den Erziehungswissenschaften gab es sehr kritische Analysen samt Urteilen zu dieser Schrift mit ihren gefährlichen «neu-rechten» Dimensionen durch Sieglinde Jornitz (Pädagogische Korrespondenz 2020, Heft 61, S. 33 ff.) und Hans-Joachim von Olberg (GWP, Heft 2/2020, S. 246 ff.). Was stehen bleibt, ist die Überzeugung, dass Steiner eine Rassentheorie ausgearbeitet hätte und Maria Montessori eine Affinität zu Mussolini aufweise. Dass es Waldorfschulen auf allen Kontinenten gibt, weil Waldorfpädagogik nicht national, sondern global konzipiert ist, bleibt unerwähnt.

In der rechtsextremen Zeitschrift Compact, welche vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft wird und deren Herausgeber Jürgen Elsässer explizit mit der AfD, Pegida etc. kooperiert, hat Jonas Glaser am 6.11.2021 den Artikel Anthroposophie: Mit Rudolf Steiner gegen den Great Reset publiziert – wobei der Great Reset rein verschwörungstheoretisch interpretiert wird. Sein Fazit lautet: «Für viele Querdenker, Impf-Kritiker, Patrioten und Gegner des Great Reset ist Steiner ein Leitstern.» Ein weiterer Artikel (COMPACT-Spezial 32, 2021) von Jonas Glaser lautet Der Erzengel der Anthroposophen: Rudolf Steiner und die Rettung der Welt. In dieser Zeitschrift wird auch für das Buch von Axel Burghart Faszination Rudolf Steiner. Sein Werk und seine Bedeutung für unser Leben geworben, das Glaser lobend anführt. Thomas Meyer bezieht sich lobend auf Publikationen von Glaser im Editorial des Europäer vom Februar 2021. Er hebt zudem die Aktivitäten von Bodo Schiffmann und seinem «Kollege[n]» Herbert Ludwig hervor: durch sie würde die «Ich-Autonomie» gegen staatliche Willkür gezeigt. Er kommt zu dem Schluss: «Der Geist der wahrhaft augen-öffnenden Geisteswissenschaft Rudolf Steiners weht und blüht eben, wo er will und kann.»

Was die politischen Parteien betrifft, so sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass die Partei Deutsche Mitte, die Coronamaßnahmen als «faschistoid» bezeichnet und damit sympathisiert, Ungeimpfte könnten einen «Judenstern» tragen. Sie formuliert verschwörungstheoretische Narrative über Bill Gates und die WHO und steht einer multikulturellen Gesellschaft ablehnend gegenüber. Die Ideen der Dreigliederung des Sozialen Organismus werden von ihr publiziert.

Auch die Partei die Basis propagiert Ideen der Dreigliederung des Sozialen Organismus. Die Autoren sind von Waldorfschulen informiert, dass es Eltern und Lehrkräfte gibt, die Mitglieder dieser Partei sind bzw. mit ihr sympathisieren. Der ehemalige Waldorflehrer und Anthroposoph Christoph Hueck hat im August 2021 einen Beitrag unter der Rubrik Stimmen der Basis veröffentlicht. Parteivertreter leugnen die Coronapandemie, Impfungen werden als organisierte Massentötungen mit dem Holocaust gleichsetzt und der Regierung wird unterstellt, Konzentrationslager für Ungeimpfte einrichten zu wollen, so unter anderem von Reiner Fuellmich, der einen Strafbefehl des Göttinger Amtsgerichtes erhalten hat, da er über den Holocaust behauptet hatte: «Es war nicht Hitler, der das getan hat, sondern es war das amerikanische Finanzsystem.»

Folgerungen aus diesem Überblick

Die hier skizzierten Gegebenheiten betreffen, quantitativ gesehen, eine Minderheit. Jedoch qualitativ betrachtet offenbaren sie ein sehr ernstzunehmendes Gefahrenpotential für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für Waldorfschulen und -kindergärten. Überzeugungen aus völkischen, rechtsradikal-(neo)nazistischen und reichsbürgerlichen Ideologien sind immer gegen die Respektierung und Verwirklichung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gerichtet.

Für die Waldorfkindergärten und -schulen ist eine ausgeprägte Bewusstheit angesagt. Unterwanderungsversuche verlaufen nie mit offenen Karten. Ihr Vorgehen ist subtil, wie an den konkreten Beispielen gezeigt wurde, und das verlangt spezifische Kenntnisse, um die Anzeichen der Unterwanderung wahrnehmen zu können.

Es zeigt sich, dass es nicht ausreicht, wenn im Eingangsbereich der Waldorfbildungseinrichtung die «Stuttgarter Erklärung» auf einem Plakat gut sichtbar aufgehängt wird. Diese Geste ist zwar positiv, verhindert aber im Ernstfall nicht, dass sich vereinzelte Eltern oder Lehrkräfte mit radikalen Einstellungen der Einrichtung an-nähern. Dass auch andere freie Schulträger mit dieser Problematik befasst sind, ist ein Hinweis auf die Schulstruktur. Freie Bildungsträger haben eine offenere Struktur durch die Form eines Vereins oder einer Genossenschaft, durch Selbstverwaltung und die ausgeprägtere Elternmitwirkung. Daran soll im Grundsatz auch in Zukunft nichts geändert werden. Nötig ist jedoch aus den geschilderten Erfahrungen, dass erkannt wird, dass Menschen mit radikalisierten Überzeugungen diese Sozialformen für ihre Ansichten instrumentalisieren wollen.

Ein größeres Gefahrenpotential besteht darin, dass Waldorfpädagogik, Anthroposophie und die Dreigliederungsidee von radikalisierten Milieus in die eigene politische Anschauung integriert werden. Wie aufgezeigt wurde, behaupten diese Autor:innen, Steiner richtig verstanden zu haben, um es verkürzt auszudrücken. Inhaltlich ist das widerlegbar, vor allem aus der Innenperspektive – aber reicht das? Wechselt man in eine Außenperspektive, dann ergibt sich ein anderes Bild. Wenn Steiner im radikalisierten Milieu gutgeheißen wird, kann für Uninformierte sehr schnell der Eindruck entstehen, Steiner und die Anthroposophie als rechtsradikal einzuschätzen. Das erschwert die seit Jahren andauernde differenzierte Auseinandersetzung und Kontroverse um bestimmte Passagen in Steiners Werk – der bekannte Rassismusvorwurf. Gegen und für diesen Vorwurf gibt es Grundlagen und Argumente. Die besonnene Erkenntnisarbeit an dieser Frage wird durch die aufgezeigten Publikationen negativ tangiert.

Dass die konkrete Pädagogik an den Waldorfschulen und -kindergärten von dieser Kontroverse weitgehend unbehelligt ist, dass Infiltrationsversuche von Anhängern rechtsradikaler Weltsichten quantitativ seltener auftreten, ist unbestritten. Die Intention, dass gute pädagogische Arbeit geleistet wird und Gefahren effektiv begegnet werden kann, soll mit diesem Beitrag unterstützt werden.

Literaturhinweise:

Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer, Rechte Bedrohungsallianzen, bpb 2021

Albrecht Hüttig (Hrsg.), Kontroversen zum Rassismusvorwurf. Der Diskurs über Rassismus – Rassismus bei Steiner? – Steiners Werk: Editionsgrundsätze, Berlin 2017

Nicholas Goodrick-Clarke, Im Schatten der Schwarzen Sonne. Arische Kulte, Esoterischer Nationalsozialis-mus und die Politik der Abgrenzung (2002), Wiesbaden 2009

Sarah Guddat, Britta Rohlfing, Wenn alle Alarmglocken schrillen – Unterwanderung freier Schulen durch die extreme Rechte und wie sich dagegen positioniert werden kann, in: R&B 3/2021, S. 18-22

Die «Reichsbürgerbewegung». Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Neu-Deutschtum, hrsg. v. Bund der Freien Waldorfschulen, 2015

Andrea Röpke, Andreas Speit, Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Berlin 2019

Markus Schulze, Gegen Rechtsextremismus vorgehen, in: «Erziehungskunst» Jan-Febr. 2021, S. 54 f.

Markus Schulze, Die Gefahr rechtsextremer Unterwanderung von Waldorfschulen – Beobachtungen und Gegenstrategien, in: R&B 3/2021, S. 23-30, modifiziert in: Journal für Waldorfpädagogik, Nov. 2021, S. 22-34

Andreas Speit (Hrsg.), Das Netzwerk der Identitären. Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, Berlin 2018

Frank Steinwachs, Zur vermeintlichen Anschlussfähigkeit rechter Phantasmen an die Waldorfpädagogik und ihr Konzept, in: Journal für Waldorfpädagogik, Nov. 2021, S. 35-42


Von Albrecht Hüttig, Martin Malcherek, Markus Schulze, Frank Steinwachs